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Betrachtungen zur Überlebensmaschine Mensch22.10.2024



Text: Horst E.Wegener

Verdientermaßen nahm die seinerzeit gerademal 25-Jährige mit dem bei Suhrkamp veröffentlichten 153 Seiten schmalen Büchlein anno 2015 beim Ingeborg-Bachmann-Preis teil, um dort sowohl den Kelag- als auch den Publikumspreis zugesprochen zu bekommen. Mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ erneuerte Fritsch fünf Jahre später ihren Status als eine vor allem für ihre bildmächtige Sprache geschätzte Autorin; abermals landete der Roman, der um Schmerz, Schuld und generationen-übergreifende Traumata kreist, auf der prestigeträchtigen Longlist des Deutschen Buchpreises.
Nun also „Zitronen“, das vierte Werk der Österreicherin – mithin eine in die Literatur übersetzte Fallgeschichte: Analytisch spiegelt die sprachmächtige Autorin die menschliche Psyche ihrer Hauptfiguren. Was unter dem Fachbegriff Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bekannt ist, liefert Valerie Fritsch die Vorlage zu einer Geschichte mehrerer Krankwerdungen in ein und derselben Familie. Da gibt es zum einen den alkoholkranken Vater August Drach, zum anderen die seelenkranke Mutter Lilly – und im Zentrum das krank gemachte Kind August Junior. Letzterem folgt der Erzähler des 186-Seiters von der Kindheit durch sein Martyrium bis ins Erwachsenenalter. Drach Junior, der am Rande eines alles andere als heimeligen Dorfes in einem schiefen Haus aufwächst, dient seinem zu Gewalt neigenden Vater als Punchingball – was von der Mutter schon allein deshalb toleriert wird, weil Lilly der Meinung ist, das vom jähzornigen Alten grün und blau geschlagene Kind am besten lieben zu können, wenn die Wunden des kleinen August im Nachhinein von ihr aufopferungsvoll versorgt werden. Als der alte Wüterich dann eines Abends auf Nimmerwiedersehen verschwindet, ändert sich zwar die Familiendynamik, sie wird deswegen aber nicht weniger destruktiv. Um sich weiterhin als liebevolles Muttertier einbringen zu können, verlegt sich Lilly aufs systematische Vergiften des Sohnes. Statt mit Gleichaltrigen zu spielen oder die Schule zu besuchen, kränkelt der Junge, ist er – bis auf einen Familienurlaub zu dritt mit dem neuen Mann an der Seite von Augusts Mutter, bei dem sie des Juniors Pillen vergessen hat - jahrzehntelang den Experimenten seiner wahnhaften Alten ausgeliefert. Aus dem Urlaub heimkehrend ahnt der gesundende August weiterhin nicht, weshalb ihn sein Körper bald erneut so sehr im Stich lässt. Ironischerweise ist es dann ein Blitz – eigentlich lebensgefährlich -, der den Jungen kurz nach seinem siebzehnten Lebensjahr ins Krankenhaus rettet und somit aus den Fängen der alten Drach befreit.
Im zweiten Teil des Romans lebt der nun erwachsene August in der Stadt. Jobbt in einer Bar hinter der Theke und verliebt sich hier in die etwas ältere Künstlerin Ada. Was zuerst als große Liebe zu einer schnellen Hochzeit führt, mündet peu à peu in eine von Misstrauen und Gewalt unterfütterte Ehe ein. Als ihr Göttergatte das erste Mal zuschlägt, trennt sich Ada von ihm. Und nachdem er seine Wunden ausgiebig geleckt hat, beschließt August ins Heimatdorf zurükkzukehren. Findet dort die pflegebedürftige Mutter vor – und kommt endlich hinter ihr Geheimnis.
Während die Buch-Idee, Leid und Liebe in einer Krankheit vereint zu erzählen, allemal ihren Reiz hat, werden wir Leser leider mit keiner einzigen Figur warm. Was es einem schwer macht, trotz der gewohnt bildgewaltigen Sprache der Autorin zumindest August Drach die Daumen für ein Happy end zu drücken.



Valeria Fritsch wird im Rahmen der diesjährigen LiteraTour Nord am 27. 10. ab 11 Uhr im Wilhelm13 ihren vierten Roman „Zitronen“ vorstellen und hernach Sabine Kyora Rede und Antwort stehen.

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